Chinesisches Schweigen.

  • 16.08.2014

  • Ein deutscher Mittelständler hatte sich entschlossen, sich mittelfristig von seinem inzwischen unliebsam gewordenen chinesischen Partner zu trennen, wozu ich als Dolmetscherin geladen wurde. 

    Anfangs sah der Lebenslauf unseres chinesischen Freundes vielversprechend aus: Er hatte als Ingenieur bereits langjährige Erfahrung in einer Vertriebsrolle bei einer anderen größeren deutschen Firma in China. In der Suche nach neuen Herausforderungen war der Mittelständler auf ihn aufmerksam geworden. Leider war ihm verborgen geblieben, dass sich der chinesische Ingenieur von der vorigen Firma ebenfalls im Unfrieden getrennt hatte, mit einer allzu hohen Abfindungsforderung.

    So saß er uns also gegenüber, dieser Chinese alten Schlages, Mittfünfziger, und allein: Vor dem Geschäftsführer, Controller, China-Verantwortlichen und Berater des Mittelständlers, um sich und seinen bereits verlorenen Posten zu verteidigen. Allein das war bemerkenswert! Ich versuchte, mir die umgekehrte Situation vorzustellen, wie ein Deutscher sich vor einem chinesischen Unternehmensgremium verantworten muss. Es wollte mir nicht recht gelingen, vermutlich auch, weil kein Deutscher es jemals so hoch auf die Leiter eines chinesischen Unternehmens schaffen würde. Ein einziger Fall war mir bekannt, von dem an anderer Stelle berichtet werden soll.

    Anfangs versuchte der Chinese, so zu tun, als ob er mein Chinesisch nicht verstünde. Auf diesen Trick fielen die Herren jedoch nicht herein, kannten sie ihren Pappenheimer doch bereits. Wir gingen zur chinesisch-englischen Mischform des Gesprächs über. 

    Es ging um das Budget, und ob dessen Umsetzung und Ziele wohl erreicht werden würden: "Wie kann ich das jetzt im Voraus schon sagen?" lachte der Chinese, und er meinte es ernst, "Das lässt sich doch erst am Ende des Jahres ersehen, wenn man weiß, wie die Geschäfte sich in der Zwischenzeit entwickelt haben!"    

    Eine weitere – dem in Nichts nachstehende – taktische List, die ich oft bei Chinesen beobachten konnte, ist das Schweigen. Sie entgegnen erst einmal nichts auf die Worte des Gegenübers, dem die darauf folgende Stille unangenehm erscheint. So beginnt das Gegenüber, sich allmählich um Kopf und Kragen zu reden, über die Motive des Chinesen nachzudenken, ihm entgegenzukommen – als Reaktion auf dessen Schweigen.

    Dieselbe Taktik wandte nun unser Ingenieur an. Er warf den Herren ein paar Brocken hin, worauf zuerst der Geschäftsführer, dann der Controller, gefolgt vom China-Verantwortlichen und abschließend der Berater eingingen. Sie alle wollten schließlich ihr Ziel erreichen und waren daher bereit, dem Chinesen richtungsweisende Vorschläge zu unterbreiten – obwohl dieser schwieg! Als Dolmetscherin und empathische Kulturmittlerin wies ich mit einer kurzen, knackigen Handbewegung die Herren darauf hin. Der Controller griff diesen Wink auf und sagte in die Runde: "Nun warten wir erst einmal ab, was er dazu zu sagen hat." Daraufhin setzte das  d e u t s c h e  Schweigen ein.

    Der Geschäftsführer studierte liegengebliebene Mails auf seinem Smartphone, der Berater zog mit dem Lineal strategische Verbindungslinien in seinen Konzepten, der Controller erwiderte unumwunden den dunklen Blick des Chinesen, der China-Verantwortliche wippte wartend auf seinem Stuhl hin und her. Mein Blick wanderte von einem zum anderen, und da war es wieder, dieses dunkle Funkeln aus chinesischen Augen, bitterböse und gemein. Wie gut ich sie inzwischen doch kenne, meine Pappenheimer!

    Die Stimmung im Raum war zum Greifen eisig, gefühlt konnte man die dicke Luft kaum atmen. Doch jeder machte gemächlich in seiner Beschäftigung weiter und ließ sich darin nicht stören. Niemand sprach. Kein Sterbenswörtchen.

    Die Uhr über der Tür tickte der Mittagsstunde entgegen. Immer wieder war da dieser Impuls, etwas sagen zu wollen, trotz allem das Unangenehme der Situation aufzubrechen und zu vertreiben. Doch wir schlugen uns wacker. Der Chinese allen voran. Er hätte bis in alle Ewigkeit geschwiegen.

    Schließlich unterbrach die Mittagsstunde die Situation. Sicher kam das auch gelegen. Andererseits wäre es interessant gewesen zu sehen, wie lange die Stille noch angehalten hätte. Wir gingen zum Essen, um anschließend knallhart in media res der Verhandlungen einzusteigen.

    Geschlagene zehn Minuten hatte das Schweigen gedauert. Niemand im Raum bereit, zu sprechen, entgegenzukommen, zu deeskalieren. Warum auch? Auf dem Weg zum Essen schauten der China-Verantwortliche mit einiger Lebenserfahrung in China und ich uns an: "Haben Sie so etwas schon mal erlebt?" - "Nein, Sie?" - "Überhaupt nicht!"

    Es ist nicht unser eigenes Verhalten im Zusammenspiel mit China, das uns überrascht und neue Perspektiven öffnet, es ist ebenso wenig das "Land China" – was auch immer das genau sein mag –, das uns den Atem raubt: Es sind die einzelnen Chinesen, in ihren Verhaltensmustern, die uns vieles lehren. Die uns zu überraschen vermögen! Von denen wir stillschweigend lernen können. Jeden Tag aufs Neue ...

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