Der Vorhalt.

  • 22.10.2014

  • Ein typisches Mittel in der abendländischen Gerichtspraxis ist der Vorhalt: Hier hält das Hohe Gericht seinem Gegenüber einen Tatbestand vor in folgender Form: "Sie haben ausgesagt, dass Sie am Dienstagabend dort waren." Dieser eine Satz wird dem Ansprechpartner vorgehalten, nicht mehr. Anschließend lehnt das Hohe Gericht sich zurück und wartet.

    Normalerweise braucht es dies auch nicht lange zu tun, da der Angesprochene gedanklich den Vorhalt durchgeht: "War ich am Dienstagabend dort? Stimmt das? Moment, ich muss nochmal überlegen ... Doch!" Nach diesem inneren Zwiegespräch öffnet er den Mund und sagt: "Ja, ich war an besagtem Dienstag dort." Das Hohe Gericht hat seine Antwort erhalten, obwohl es doch eigentlich gar keine Frage gestellt hatte, sondern nur einen Sachverhalt vorgestellt hatte. Daraufhin hat der Angesprochene diesen Vorhalt selbständig innerlich überprüft und darauf entgegnet. Ein ganz natürlicher Vorgang würden Sie sagen? Total normal?

    Dann haben Sie noch nie eine deutsche Gerichtsverhandlung mit chinesischen Teilnehmern erlebt.

    An eben diesem Instrument des Vorhalts lässt sich nämlich sehr schön eine stets wiederkehrende chinesische Denkungsart darstellen, die den Geduldsfaden des westlichen Gegenübers extrem überdehnt. Ich durfte das so bisher in jeder Anhörung, Vernehmung und Gerichtsverhandlungen zwischen deutschem Fragendem und chinesischem Antwortendem erleben, und das sind mehrere Dutzend. Dieses Kommunikationsmuster ist daher so bezeichnend und universell, dass ich es am Beispiel des Vorhalts, das sich hervorragend dazu eignet, aufzeigen möchte.

    Total normal, auf eine in den Raum gestellte Behauptung gedanklich einzugehen und entsprechend zu reagieren, darüber waren wir uns eben noch einig. Sicher, wenn beide Beteiligte aus demselben Kulturkreis stammen, in dem diese Art des Denkens und Implizierens stillschweigend gegeben und geprägt ist. Doch was, wenn Sie jemandem vorhalten: "Sie waren am Dienstagabend dort!" und das Gegenüber nicht reagiert? Wenn er oder sie Sie erwartungsvoll oder fragend anschaut, oder so, als ob Sie selbst noch nicht alles gesagt hätten? Obwohl der Vorhalt doch schon eindeutig im Raum steht?

    Eben das ist der Knackpunkt. Für Sie, als Abendländer, der den Vorhalt gemacht hat, ist der nächste logische Schritt - auf Basis der eigenen althergebrachten Kommunikationsmuster -, Ihre Aussage zu durchdenken und darauf zu entgegnen. Doch diese Reaktion ist nicht zwingend logisch, zumal Sie ja gar keine Frage gestellt haben. Vielleicht kommt diese noch? Oder Ihre Ausführungen waren  noch nicht vorüber? Denken Sie noch nach? Oder haben Sie den Faden verloren? Wollen Sie denn überhaupt eine Frage stellen oder wollen Sie in eine ganz andere Richtung? In welche denn eigentlich?!   

     

    Wie Sie merken, hat sich hier der Blickpunkt Ihres Gegenübers eingeschlichen, der nun ebenso verwundert dasteht wie Sie: Für Sie ist das Gefühl irritierend, dass Ihr Gegenüber auf die implizite und dennoch klar im Raum schwebende Frage nicht reagiert, eingeht - für Ihr Gegenüber wirkt es seltsam, dass Sie den Sinnzusammenhang noch nicht zu Ende ausgeführt und gar keine Frage gestellt haben, und er überlegt, in welche Richtung Sie wollen. 

    Diesen Moment ist sehr bedeutend als Auslöser für die weitere Entwicklung, und ich erlebe ich eigentlich in jeder Dolmetschsituation zwischen Deutschen und Chinesen: Auf dieser Basis sind schon eine Reihe interkulturelle Ehen und - schlimmer noch! - Joint Ventures und Unternehmenskooperationen gescheitert. Viele, viele ...

    Die Kommunikation stoppt in diesem Moment, sie hängt erst einmal in der Luft - für beide Seiten gefühlt vermutlich zu lange, so dass sich ein erstes leises Unwohlsein einschleicht. Die deutsche fragende Seite versucht, da sie sich ja derzeit in der initiativen Rolle befindet, die Situation aufzulösen: "Also, ich formuliere das jetzt mal als Frage: Waren Sie Dienstagabend dort?" Nun fühlt sich auch die chinesische Seite verstanden: "Nein!"

    Aha, er war Dienstagabend nicht dort, denkt der Deutsche, und übrigens endlich mal ein Chinese, der ein klares Nein ausspricht! Aber wo war er denn dann? Der Deutsche wartet, auf Basis derselben Implikationen wie oben genannt: Sein Gegenüber sollte doch nun eigentlich, als logische Fortsetzung der Frage-Antwort-Kette, erläutern, wo er Dienstagabend stattdessen war. Dies geschieht allerdings nicht, oder aber anders als gewünscht: "Nein?" wird deutsch nachgefragt. Der Chinese denkt: Ah, der Deutsche hat mein Nein nicht genau verstanden, vor Gericht muss man sicher ein bißchen genauer erklären, und er sagt: "Nein, ich war an dem Dienstag nicht dort." Nun ist wieder der Deutsche an der Reihe: Ah, er war nicht dort. An dem Dienstag, sagt er. War er an einem anderen Dienstag dort? Und warum sagt er das nicht? Bißchen schwerfällig ... Muss man ihm denn alles aus der Nase ziehen?!

    Entsprechend schroff fällt dann der Ton des deutschen Nachfragers aus: "Also, erzählen Sie mal: Wann waren Sie dort? An einem anderen Dienstag? Waren Sie regelmäßig dort? Beschreiben Sie ..." Die chinesische Seite empfindet den Ton schon als schärfer und unhöflich: Diese Deutschen, sie sind immer so direkt und plump! Ich habe doch schon gesagt, dass ich an dem Dienstag nicht dort war! Wieso spricht er jetzt von einem anderen Dienstag? Und was soll ich denn genau beschreiben? Seltsam, einerseits sind die Deutschen direkt, andererseits können sie keine konkreten Fragen stellen ...: "Also, ich war an dem Dienstag nicht dort. An anderen Dienstagen war ich schon dort."

    Die chinesische Seite denkt: Ich lasse dem Deutschen mal ein bißchen Freiraum, er wird sicher fragen, um welchen Dienstag es ihm genau geht, wenn es wichtig ist.

    Die deutsche Seite denkt: Das hat der Chinese eben schon gesagt. Und konkreter wird er auch nicht. Und wieso war er schon dort? War er bereits einmal dort? Ach nein, 'schon' hat ja noch eine andere Bedeutung ... naja, sein Deutsch ist eben nicht so gut! Okay, also muss ich ihm weiter alles aus der Nase ziehen -  das kann ja heiter werden!

     

    Wir alle merken bereits, ob Chinese oder Deutscher, wohin das Ganze führen wird - nämlich in keine gute Richtung. Beide Seiten sind in der Kommunikation implizit von den ihnen geläufigen Kommunikationsmustern ausgegangen - doch eben diese greifen nicht hundertprozentig im anderen Kulturkreis. Die darauffolgende Reaktion oder eben auch Nichtreaktion löst Irritationen aus, die zu Annahmen führen, auf denen die weitere Kommunikation gründet. Es entstehen leise Genervtheiten, auch Fehlannahmen, die verfestigt werden, wenn das Gegenüber seine These bestätigt sieht, soll heißen: Wenn die althergebrachten Kommunikationsmuster beiderseits unverändert und vor allem unreflektiert fortgeführt werden.

    Denn all das, der oben geschilderte und analysierte Prozess, findet meistenteils unbewußt statt. Die eigene Sprache ist zu sehr mit dem Reagieren und Antworten verwoben, als das man sie - im ersten Moment wohlgemerkt - hinterfragen würde. Hinzu kommt, dass der deutsche Fragende meist auch in gehobener Position steht, als Richter, Polizist, Abteilungsleiter oder Geschäftsführer. Ihm ist also kraft seines Amtes ein gewisser Status verliehen, der ebenfalls eine Hinterfragung des eigenen Verhaltens eher ausschließt.

    Chinesen bringen zwar auch ein Obrigkeitsdenken mit, doch verstehen sie es auch sehr gut, ihre eigene und persönliche Position zu vertreten, vor allem in Situationen, in denen es um etwas geht. Dies ist in geschäftlichen Kooperationen bei Ämtern oder vor Gericht meist der Fall. Dann können Chinesen oftmals sehr direkt und geradeheraus sein, was wiederum von der deutschen Seite als zu prompt und daher unhöflich empfunden wird. 

    Ich bin mir sicher, dass ein Teil der sino-westlichen Kooperationen in China oder Europa schwere Mißverständisse erlebt hat, aufgrund dieser fehlgeleiteten Kommunikationsmuster mit ihren impliziten Annahmen, die anfangs nicht hinterfragt werden und sich hinterher so verfestigen, dass eine Korrektur nur schwer wieder möglich ist. Jeder, der mit China zu tun hat, wird dies schon einmal erlebt haben, wenn er nur genau darüber nachdenkt.

     

    Die Berührung mit der fremden Kultur stellt immer auch die Spiegelung und Reflektion der eigenen dar. Nur im steten Wechselspiel des Hinterfragens und Infragestellens wird sich eine fruchtbare (keine furchtbare) Kommunikation ergeben, bei der beide Seiten aufmerksam ihr Gegenüber mitverfolgen und somit auch ernst nehmen.

    Die Hinterfragung der eigenen Muster mag anfangs ungewohnt und auch ungewollt sein, denn das hieße ja, sich einzugestehen, dass nicht nur die Gegenseite Fehler macht. Es sind allerdings gar keine Fehler. Es sind Irritationen, die aufgrund kulturell unterschiedlicher Prägungen, welche sich wiederum in der Kommunikation ausdrücken, entstehen. Diese können, wenn nicht aufgepaßt wird, zu einer Serie von Mißverständnisse führen. 

    Doch denken Sie daran: Sie sind nicht allein! Ihrem chinesischen Gegenüber geht es in eben diesem Moment genauso wie Ihnen. Fragen Sie nach und sprechen Sie mit ihm. Quälen Sie Ihren Dolmetscher oder Ihre eigenen oder die Englischkünste des Gegenübers solange, bis für Sie alles geklärt ist. Hinterfragen Sie. Fragen Sie nach. Sie werden erstaunt sein, wie viele Antworten Sie bekommen werden.

    Zudem werden Sie Ihrem Namen als gründlicher Deutscher alle Ehre machen!

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